Termine 2017/18
Uraufführung
28.05.2015, 20 Uhr,
Café Milagro (KSHG), Frauenstr. 3-5, Münster
heim.weh.
Über heim.weh
Am 8. Mai 1945 ging der Krieg zu Ende. Aber nur das Militär hat kapituliert, alle anderen Institutionen, die in irgendeiner Form Macht ausüben konnten, machten weiter. Hunderttausende junger Menschen waren dem brutalen System „Heimerziehung“ in der frühen Bundesrepublik unterworfen mit massivem Missbrauch von Macht, Demütigungen und Erniedrigungen in ungeheurem Ausmaß ohne Aussicht auf Hilfe oder Mitgefühl. Die Öffentlichkeit interessierte sich nicht für das, was hinter den Mauern geschah. Die Menschen der damaligen Zeit hielten autoritäre Erziehung für völlig normal und leisteten damit den TäterInnen indirekt Beistand.
Geduldet von Kirchen, Institutionen, Jugendämtern und Landschaftsverbänden und abgeschirmt vom gesellschaftlichen Leben lebten Kinder und Jugendliche lange Jahre hinter den Mauern geschlossener Erziehungsanstalten. Dort erlitten sie Prügel, Missbrauch und verrichteten Zwangsarbeit jenseits jeglicher Schulbildung. Es waren kaum fassbare Zustände, die sich bis weit in die siebziger Jahre in Deutschland abspielten.
Das semidokumentarische Stück nähert sich diesem noch immer verdrängten Kapitel deutscher Geschichte. Die Inszenierung wirft Fragen auf nach dem Zusammenhang staatlich sanktionierter Nazi-Methoden, die in diesen Heimen überleben konnten und dem Wegsehen der Menschen in der Zeit des Wirtschaftswunders.
Die Journalistin und spätere RAF-Terroristin Ulrike Meinhof war die erste Intellektuelle in der BRD, die sich dieses Themas annahm und es ins öffentliche Bewusstsein rief. In „Bambule”, ihrem einzigen Film überhaupt, kritisiert sie die autoritären Methoden dieser Heimerziehung.
In Vorbereitung auf das Filmprojekt trifft sie 1970 das ehemalige Heimkind Irene Treber, die als Tänzerin in einer Bar arbeitet. Irene fällt es schwer, sich Meinhof gegenüber zu öffnen. Erschwerend leidet das Mädchen unter einer ausgeprägten Form der dissoziativen Identitätsstörung, nicht untypisch bei Menschen, deren Psyche ihnen zur Gefahr werden kann.
Durch die Treffen in einem Berliner Café jedoch verändert sich Irene. Durch Meinhofs (oft auch eigennütziges) Interesse erlangt sie zum ersten Mal so etwas wie Selbstbewusstsein und sie gibt ihren Widerstand auf. Im Gegenzug verschafft sie der Journalistin Einblicke in den grausamen Heimalltag. Die Heftigkeit der geschilderten Erlebnisse radikalisiert Ulrike Meinhof und sie beginnt am Wert ihrer Arbeit und ihrem gesellschaftlichen Einfluss zu zweifeln.
”heim.weh”möchte sensibilisieren für das Schicksal ehemaliger Heimkinder und ihr durchlebtes Leid, den Verlust ihrer Kindheit und Jugend und die brutalen Erziehungsmethoden in den damaligen Heimen.
Das Theaterprojekt begreift sich darüber hinaus als Impulsgeber für die öffentliche Debatte. Gleichzeitig dient es der Prävention für Fehlentwicklungen in der heutigen Praxis der Heimerziehung.
Wir lebten ohne zu leben.
In den Kinderheimen wurde sich an den strammen Zeitplan gehalten, ohne sich um die Bedürfnisse der Kleinkinder zu kümmern. Wer da aus der Reihe tanzte, allzu lebhaft war, wurde unter Umständen im Bettchen angeschnallt, und allzu lebhaften Kindern wurden mit Medikamenten ruhig gestellt. Oft starrten sie tagelang auf weiße Wände, die Folge: Hospitalismus. Die unver meidlichen Störungen und Verzögerung der Entwicklung führten zu Diagnosen, die weit schlimmere Folgen für die Säuglinge hatten. Sie waren nicht mehr in Pflegefamilien oder zu Adoptionen vermittelbar. Eine weitere Heimkarriere war vorgezeichnet.
In den Heimen galt es, keine besonderen Bedürfnisse zu haben. Sich in den alltäglichen Heimbetrieb einzufügen, war oberstes Gebot. Die Suche nach einem Erwachsenen, der ein bisschen Mutter oder Vater hätten sein können, blieb eine Sehnsucht, die lediglich in Wünschen und Träumen Erfüllung fand.
Hatten diese Heimkinder schon keine liebevolle Zuwendung von Seiten der Erzieher zu erwarten, so mussten sie oft auch untereinander ein einsames Leben führen, geprägt von Misstrauen und Ängsten. Das ständige Leben im Kollektiv, das dennoch Auf-sich-allein-gestellt sein und das undurchschaubare Ausgeliefertsein, führten zu emotionaler Auszehrung.
Traurigkeit und Schmerz, aber auch Ärger und Zorn konnten nicht gelebt werden, weder äußerlich noch innerlich. Die Kinder lebten ohne zu leben.
Unter diesen Bedingungen wuchs auch meine Tochter auf. Sie wurde ebenfalls angeschnallt in der Nacht, oft auch tagsüber. Ich musste das geschehen lassen. Nach über 50 Jahren ist es uns nicht gelungen, ein gutes Verhältnis aufzubauen. Sie ist mir gegenüber schroff und abweisend. Wir können nicht offen darüber reden. So, als wäre ich für diese Entbehrung schuldig. Die Zustände in den Heimen haben uns geprägt. Zustände, die wir heute nicht mehr zulassen dürfen.
Ich trage noch immer das Putzkleid aus dieser Zeit. Symbolisch zwar nur, doch schleppe ich die Last von damals mit mir herum, böse Worte, die mich ein Leben lang begleiten: du taugst nichts, du bist für die Gesellschaft nicht tragbar, du landest sowieso wieder in der Gosse. Nach so vielen Jahren haben sich diese Worte in meine Seelen fest gesetzt. Das Putzkleid von damals trage ich heute immer noch.
Aus einem Vortrag von Regina Page
heim.weh.
Heime als billige „Entsorgung“ von Störenfrieden
Wer in ein Heim kam, war selten Waisenkind oder kriminell, sondern nichtige Gründe konnten zur Einweisung führen. Ein gesellschaftliches Kartell aus Behörden, Gerichten, Lehrern, Nachbarn oder Kirchen bestimmten und legten fest, was gut oder böse, wer brav oder ungezogen war, ab wann ein Mädchen sexuell verwahrlost galt. Oftmals Leute, die den ganzen Tag nichts anderes zu tun hatten, als hinterm eigenen Fenster die Nachbarn zu beobachten und diese ob ihres Lebenswandels zu denunzieren. Uneheliche Geburt galt als Schande. „Wenn du nicht brav bist, kommst du in ein Heim“ lautete die Drohbotschaft an Millionen Kinder und Jugendliche. (…)
Besonders betroffen waren Kinder alleinerziehender Mütter und generell unehelich geborene Kinder. Nicht die jahrelange Vergewaltigung eines Kindes hat Gerichte, Jugendbehörden, Lehrer und Nachbarn interessiert, sondern die Schande der nichtehelichen Schwangerschaft. (…)
Jürgen Bartsch, der ebenfalls Heimkind war und in den sechziger Jahren vier Kinder ermordete, war lt. Alice Miller kein geborener Mörder, sondern seine Aggressionen die Folge von Bedrohung, tiefer Demütigung, Vernichtung der Würde, Entmachtung und Ängstigung. Bartsch: “Ihr hättet mich nie zu diesen Sadisten im Schwarzrock schicken dürfen...“
Mario Adorf war ein uneheliches Kind, dazu noch von einem Italiener und kam mit drei Jahren in einen düsteren, katholischen Basaltbau und blieb vor Prügeln nicht verschont. Seine Erinnerungen, die er auch in seiner Autobiografie „Himmel und Erde“ schildert, unterscheiden sich kaum von denen anderer Heimkinder. (…)
Viele Heimkinder von einst haben bis heute nicht über das Trauma ihrer Kindheit sprechen können. Ihre Erlebnisberichte enthüllen das vielleicht größte Unrecht, das jungen Menschen in der Bundesrepublik angetan wurde. (…)
Der eigentliche Skandal liegt darin, dass die Beteiligten von damals darauf bauen können, dass die Akten weitgehend vernichtet sind. Kaum ein Heim besitzt aus dieser Zeit noch Unterlagen. Einige verweigerten sowohl den Betroffenen wie auch Journalisten jeglichen Einblick, auch weil man inzwischen betagte ErzieherInnen schonen will.
Peter Wensierski, Schläge im Namen des Herrn
Franziskus über die „Plage des sexuellen Missbrauchs“
Der Kampf gegen sexuellen Missbrauch durch kirchliche Mitarbeiter muss nach den Worten von Papst Franziskus weiter oberste Priorität haben. Pfarrer und Ordensleute, die Kinder missbrauchten, «haben absolut keinen Platz im geistlichen Dienst», schrieb Franziskus in einem Brief an die nationalen Bischofskonferenzen und die katholischen Ordensoberen, den der Vatikan am Donnerstag veröffentlichte. Die Kirche müsse alles Erdenkbare tun, um die «Plage des Missbrauchs» in ihren Reihen auszurotten. Der Wunsch, Skandale zu vermeiden, dürfe keine Rolle spielen, so der Papst. (…)
Viele, die als Kinder und Jugendliche in kirchlichen Heimen geprügelt und missbraucht wurden, kämpfen seit Jahrzehnten um ihre Würde. Sie haben eine Kirche erlebt, in der die Institution mehr zählt als das Opfer, in der Korpsgeist wichtiger ist als Gerechtigkeit. (…)
Dafür sollten die Bischofskonferenzen ihre Richtlinien gegen den Missbrauch, die sie auf Veranlassung der Glaubenskongregation seit 2011 entwickelt haben, ohne Wenn und Aber anwenden. (…)
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Die Substanz einer Sünde
Sehr geehrte Frau Page,
die Kommission hat sich sehr intensiv mit dem beschriebenen Schicksal der Menschen beschäftigt und Ihre Schilderung sowohl von juristischer wie auch sozial-psychologischer Sicht betrachtet. Gleichzeitig wurde uns bewusst, dass wir uns genau an die vorgegebene Ordnung der Bischofskonferenz halten müssen. Da bei Ihnen das Thema ”Heimkinder” und das Thema „Missbrauch” ineinandergehen, müssen wir differenziert arbeiten, damit die Anerkennung auch plausibel gemacht werden kann. Auch muss von unabhängiger Seite beurteilt werden, wie damals die gängige Beichtpraxis nach dem Lohne-Lehrbuch in Fragen der Substanz einer Sünde aussah…
Aus einem Schreiben der Bischofskonferenz an Regina Page (Auszug)
Heimkampagne
Mehr als eine halbe Million Kinder und Jugendliche teilten in den siebziger Jahren das Schicksal, in einem der über 3000 Erziehungsheime der Bundesrepublik Deutschland leben zu müssen. Ende der sechziger Jahre lösten die späteren RAF-Terroristen Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin eine „Heimkampagne“ aus, mit der sie die Fürsorge-Zöglinge des hessischen Jugendheims Staffelberg zur Heimrevolte aufriefen. Das „Fanal“ war der Anfang vom Ende der autoritären Heimerziehung.
Erst die »Heimkampagnen« leiteten zu Beginn der siebziger Jahre einen Bewusstseinswandel ein. Die Journalistin Ulrike Meinhof entrüstete sich 1968, dass Familien oft nur »den Heimausweg« wüssten, »weil diese Gesellschaft sich immer noch nicht darauf eingerichtet hat, dass sie zehn Millionen berufstätige Frauen hat und weit über eine Million berufstätige Mütter mit Kindern unter 14. Und weil wir eine Familienpolitik haben, die nichts tut.«
Nach exemplarischen »Befreiungen« von Heimkindern im Sommer 1969 kamen Reformen in den Erziehungsanstalten in Gang. Man besetzte das Büro des Frankfurter Jugendamtsleiters und erzwang Wohnraum für die befreiten Heimkinder. In vier Wohnungen wurden Wohnkollektive gegründet, nach deren Vorbild die noch heute die üblichen »betreuten Jugendwohngemeinschaften« betrieben werden.
Allerdings ist rückblickend auch festzuhalten, dass sich die Vorstellungen der Studentenbewegung, die Heimkampagnen zu einem Instrument des Klassenkampfes zu machen, als illusionär erwiesen. Zu groß waren die Interessengegensätze und lebensweltlichen Differenzen zwischen Studierenden und den von ihnen Aufgenommenen. Die Jugendlichen wehrten sich nach einiger Zeit gegen ständigen Diskussionszwang und die Bevormundung durch die Studenten und wollten ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. Umgekehrt waren viele Studenten zutiefst enttäuscht über das fehlende revolutionäre Bewusstsein der Heimjugendlichen.
Quelle: wikipedia
Ulrike Meinhof und Bambule
Was trieb die erfolgreiche Journalistin Ulrike Meinhof 1970 in den Untergrund?
In einem Privatarchiv sind bislang unbekannte Texte Ulrike Meinhofs aufgefunden worden, die ihren rasanten, noch immer rätselhaften Weg in den Untergrund dokumentieren: Ulrike Meinhofs Bericht über die Dreharbeiten zu ihrem Film "Bambule" sowie um drei Meinhof-Briefe an Dieter Waldmann, den 1971 verstorbenen Leiter der Produktionsgruppe Fernsehspiel beim Südwestfunk Baden-Baden.
Er hatte "Bambule", das erste und einzige Filmprojekt der Meinhof, angeregt. Thema des Werks: die Genese einer Rebellion in einem Berliner Mädchenheim. (…)
Binnen eines guten Jahres kippte Meinhofs politische Haltung und ihr Selbstverständnis als Journalistin, wandelten sich Ton und Stil, Grammatik und Orthographie ihrer Sprache. (…)
Im März 1970 - die Dreharbeiten zu "Bambule" waren gerade abgeschlossen - schreibt sie ihm: ”Ich habe keine Lust mehr, ein Autor zu sein, der die Probleme der Basis, z. B. der proletarischen Jugendlichen in den Heimen, in den Überbau hievt, womit sie nur zur Schau gestellt werden, daß sich andere daran ergötzen, zu meinem Ruhm. Ich finde den Film Scheiße.”
Ulrike Meinhof perfektionierte die Rhetorik von der beständigen Verschärfung der Verhältnisse, die angeblich auf einen "neuen" Faschismus zusteuerten. Schon in ihren Kolumnen für die linke Zeitschrift Konkret aus den Jahren 1959 bis 1969 nahm sie die Gegenwart grotesk verzerrt zur Kenntnis: Während sich das Land allmählich aus der verdrängungsneurotischen Muffigkeit der 50er Jahre löste und freiere Luft zu atmen begann, wurde es in den Augen der politischen Kommentatorin immer enger. (...)
Waldmann hatte Ulrike Meinhof mit Eberhard Itzenplitz zusammengebracht, einem renommierten Regisseur sozialkritischer Fernsehspiele. Itzenplitz erinnert sich: "Das Problem lag darin, daß Ulrike nicht von dramaturgischen Erwägungen aus an den Stoff heranging. Im Vordergrund stand für sie vielmehr die politische Botschaft". Wie die lauten sollte, hatte Meinhof in einem Begleittext zu "Bambule" formuliert: "Heimerziehung, das ist der Büttel des Systems, der Rohrstock, mit dem den proletarischen Jugendlichen eingebläut wird, daß es keinen Zweck hat, sich zu wehren. Gewalt produziert Gegengewalt.“ (...)
"Am liebsten hätte sie in jedem szenischen Dialog einen flammenden Appell untergebracht", sagt Itzenplitz. Meinhof wollte "nicht der Wirklichkeit, sondern der Wahrheit näherkommen", wie sie damals formulierte. Ein programmatischer Satz aus der politischen Metaphysik, der zum ideologischen Leitmotiv wurde.
Am 21. März 1970 teilte Ulrike Meinhof dem "lieben Dieter" mit, daß sie die Dreharbeiten "ziemlich fertiggemacht haben": Dein Job ist das Fernsehspiel - also kannst Du mich nur für verrückt erklären ... Nur ist mir jetzt wirklich klargeworden, daß ein Aufstand im Heim, die Organisierung der Jugendlichen selbst, tausendmal mehr wert sind als zich Filme ... Das hab ich kapiert, daß ich mit diesem Film nichts als ein ästhetisches Verhältnis zu den Problemen dieser proletarischen Jugend herstelle, wie jeder andere Schriftsteller auch - daß das Gewäsch ist, Revolutionsgewäsch."
Das schlechte Gewissen der privilegierten Publizistin, die die unvermeidliche Trennung zwischen Autorin und Gegenstand nicht aushalten konnte und am liebsten in die Haut der elenden Opfer staatlicher Fürsorge fahren würde - gerade die so rational argumentierende Ulrike Meinhof verkörperte auf irritierende Weise diese romantische Sehnsucht nach revolutionärer Neugeburt, rettender Verschmelzung, Aufhebung aller schmerzhaften Widersprüche, Authentizität pur.
Daß man mit Fernsehspielen keine Revolution machen kann, entdeckte sie erst am Set: Ein Fernsehspiel, das die Mädchen verschaukelt, man darf sagen: ein Scheißspiel ... Ändern wird sich nur etwas, wenn die Unterdrückten selbst handeln. Wer sie dabei unterstützen will, muß es praktisch tun, muß den Unterdrückten selbst helfen, sich zu organisieren, zu handeln, ihre Forderungen durchzusetzen ... Es kommt darauf an, selbst mitzumachen."
Auch ihr haftete jenes Charakteristikum der deutschen Linksintellektuellen an, das bis in die jüngste Vergangenheit virulent ist: der Wunsch, sich als Opfer zu spüren, um endlich Subjekt, Täter, Anstifter werden zu können; ein tiefsitzendes Schuldgefühl angesichts der Zustände einer katastrophalen Welt, das nach Wiedergutmachung verlangt, der Drang nach Praxis, tätiger Erlösung, die sich letztlich doch nur abstrakt vollzieht.
"Von Revolution reden heißt, es ernst meinen", schrieb sie damals, sie, die von der "Deutschen Friedens-Union" geprägte Pazifistin, die, anders als Tausende von Demonstranten, niemals einen Stein geworfen, keine Straßenbarrikade gebaut oder einen Molotowcocktail, geschweige einen Sprengsatz gebastelt hatte. (…)
Der Zwiespalt ihrer Selbstdefinition als Journalistin, das Pendeln zwischen Haß und Selbsthaß, offenbarte sich in einer wütend-verzweifelten Selbstbezichtigung. In einer ihrer letzten Konkret-Kolumnen attackierte sie gleichermaßen den Opportunismus der Zeitschrift und die eigene Rolle: "Damit aus Theorie keine Praxis wird, leistet man sich Kolumnisten, ohnmächtige Einzelne, Außenseiter, Stars.“ (…)
Die letzten Briefzeilen an Dieter Waldmann vom März 1970: ”Ich kann mir natürlich unter diesen Umständen auch keinen neuen Film von mir vorstellen. Was ich vorhabe ist politisch zu arbeiten. Versuch mal, jetzt nicht bitterböse auf mich zu sein, sondern die Geschichte ein bisschen zu verstehen. Sie ist nicht einfach verrückt. Im Grunde ist sie nur konsequent und ich zum Glück noch nicht so korrupt, daß ich es nicht noch ticken konnte. Tschüß für heute. Ulrike.”
Acht Wochen danach prangte ihr Konterfei auf einem bundesweiten Fahndungsplakat.
Am 14. Mai 1970 traf Ulrike Meinhof den inzwischen wieder verhafteten Andreas Baader im Lesesaal des Berliner Zentralinstituts für Soziale Fragen. Zwei Justizbeamte begleiteten den Gefangenen Baader, dem ein mehrstündiges "Quellenstudium" gestattet worden war.
Dann ging alles ganz schnell: Gudrun Ensslin stürzte mit einem Kleinkalibergewehr herein, begleitet von einem ebenfalls bewaffneten Mann. Es kam zu einer Schießerei. Der Institutsangestellte Georg Linke wurde schwer verletzt. Baader war befreit. Mit ihm sprang Ulrike Meinhof aus dem Fenster des Instituts und tauchte ab in die Illegalität, begleitet von dem Heimmädchen Irene Goergens.
Die Ausstrahlung des Films, der zehn Tage später auf dem Programm stand, wurde abgesetzt. Erst 24 Jahre später, im Mai 1994, präsentierte ihn die ARD stolz im Fernsehprogramm Südwest 3 - als historisches Fundstück.
Reinhard Mohr, SPIEGEL 33/1996
Verlust des authentischen Lebens
Wenn ein Kind von demjenigen, der es schützen sollte, körperlich und/oder seelisch überwältigt wird und das Kind zu niemanden fliehen kann, wird es von Angst überwältigt. Eine Todesangst sucht das Kind heim. Die Todesangst ist so überwältigend, so paralysierend, dass sie beiseite geschoben und abgespalten werden muß, nicht nur verdrängt. Abspaltung bedeutet, dass ein Mensch Teile seiner Psyche, die ihm zur Gefahr werden, absondert.
Arno Gruen „Wider den Gehorsam”
Multiple Persönlichkeiten haben keine Wahnvorstellungen. Die Stimmen in ihrem Innern erzählen die Wahrheit. Auch wenn es oft einander widersprechende Wahrheiten sind. Es sind die Wahrheiten, die die 'Innenpersonen' kennen. Eine Person wechselt ihre Persönlichkeitsanteile, abwechselnd, ohne das die Trägerperson davon etwas bemerkt.
„Viele-Sein“ heißt, dass ein Mensch mehrere, voneinander getrennte „Ichs“ (Persönlichkeiten) hat. Oft wird hierfür der Begriff „Multiple Persönlichkeit“ verwendet. Der klinische Fachbegriff lautet „Dissoziative Identitätsstörung“. Viele geworden zu sein ist keine Krankheit, sondern eine Anpassungsleistung in einer gewaltvollen Realität, die sonst nicht überlebbar wäre.
Bei der dissoziativen Identitätsstörung gibt es mindestens zwei, meistens mehr Persönlichkeiten innerhalb eines Individuums. Jede Persönlichkeit hat ihr eigenes Gedächtnis und ihre eigenen Eigenschaften und Verhaltensweisen. Verschiedene der Persönlichkeiten übernehmen wiederholt aufgrund innerer oder äußerer Auslösereize die Kontrolle über das Verhalten der Betroffenen. Häufig wissen die Persönlichkeiten nichts voneinander. Subjektiv wird dies erlebt als nicht zu sich gehörendes Verhalten, Stimmen hören, „Zeit verlieren“, Flashbacks, Erstarren u.a.
Boon, Steele, Van der Hart „Traumabedingte Dissoziation bewältigen”
Mit freundlicher Unterstützung vom Fonds Heimerziehung-West und